Als der 43-Jährige vor genau zwei Jahren (20. Mai) sein Amt antrat, hat er den Frieden im Osten des Landes zum obersten Ziel seiner Präsidentschaft ausgerufen. Dafür wollte er sich selbst mit dem «glatzköpfigen Teufel» an einen Tisch setzen. Davon ist keine Rede mehr. Gespräche mit den moskautreuen Separatisten lehnt der frühere Komiker kategorisch ab. Viele Ukrainer sind enttäuscht von ihm.
73 Prozent der Ukrainer wählten den Ex-Schauspieler damals, weil sie genug hatten von der Politik seines Vorgängers Petro Poroschenko. Die Hoffnungen waren gross, dass mit dem Polit-Neuling endlich die Waffen schweigen könnten in dem Konflikt zwischen Regierungstruppen und Separatisten. Doch mehr und mehr ist die Rhetorik von Selenskyjs Umgebung militaristisch geprägt. Nachbar Russland bemerkt spöttisch, dass Selenskyj öfter an der Front gewesen sei als sein Vorgänger.
«Ich bin ohne zu zögern bereit, meinen Posten einzubüssen, nur damit Frieden eintritt», verkündete Selenskyj in seiner Antrittsrede. Doch zwei Jahre später sterben weiter Menschen. Erst im April wuchsen international die Sorgen vor einer neuen Eskalation nach Berichten über russische, aber auch ukrainische Truppenbewegungen. Russland drohte offen mit einem Eingreifen. Auch wenn es nun ruhiger geworden ist - gelöst ist der seit 2014 ausgebrochene Konflikt noch nicht. UN-Schätzungen nach gibt es bereits mehr als 13 000 Tote.
Der präsidentennahe Politologe Wladimir Fessenko verteidigt Selenskyj: «Vor den Wahlen hatte er nicht wenige naiv-romantische Vorstellungen, wie auch viele seiner Wähler, über die Möglichkeiten, Frieden im Donbass zu erreichen.» Nach seinem Amtsantritt sei er mit der Realität konfrontiert worden. Kiew allein sei nicht in der Lage, Frieden zu erlangen. «Es braucht auch eine entgegenkommende Bewegung der Gegenseite. Die gibt es nicht.» Fessenko meint damit Moskau.
Kremlchef Wladimir Putin hat Selenskyj offenbar längst abgeschrieben. Dabei gab es zu Beginn von Selenskyjs Amtszeit durchaus Signale des Entgegenkommens aus dem Kreml. Die beiden Präsidenten trafen sich im Dezember 2019 in Paris. Unter deutscher und französischer Vermittlung waren Schritte hin zu einer Lösung des Konflikts vereinbart worden. Es gab mehrmals Gefangenenaustausche und einen Waffenstillstand. Nun sagte Putin aber vergangene Woche: «Allem nach zu urteilen, wird die Ukraine langsam aber sicher in ein Anti-Russland verwandelt.»
Einen Grund für die Entwicklung sieht der ukrainische Politologe Alexej Jakubin in Kiews Politik nach dem Gipfel in Paris. Moskau habe die Umsetzung des Abschlussdokuments erwartet. Umgesetzt wurde aber bestenfalls die Hälfte der Vereinbarungen - aus Angst vor Protesten radikaler Nationalisten. «Diese Punkte betrafen nicht den politischen Teil. Es wurden nicht einmal Gesetzentwürfe dafür vorbereitet», sagt Jakubin der Deutschen Presse-Agentur in Kiew. Seitdem sieht selbst das Präsidentenbüro eine «anhaltende Stagnation» bei den Verhandlungen.
Kiew nimmt Russland etwa die Ausgabe von russischen Pässen an Bewohner der Separatistengebiete übel. Das wird von vielen Beobachtern als ein erster Schritt zu einer späteren Annexion der ostukrainischen Gebiete bewertet. Moskau bestreitet das. Und als Selenskyj kürzlich seinem russischen Kollegen ein persönliches Treffen im Donbass vorschlug, antwortete Putin: «Wir empfangen den Präsidenten der Ukraine zu jeder für ihn angenehmen Zeit in Moskau.» Ein Gang, der für den Ukrainer ausgeschlossen ist.
Selenskyjs Stab in Kiew scheint immer weniger zu wissen, wie es weitergehen soll. Jakubin vermutet, dass alles auf ein Einfrieren des Konflikts hinauslaufe: «Wir reintegrieren das Territorium nicht, sondern einigen uns auf eine Minimierung der Schusswechsel und lassen alles so, wie es ist.» Irgendwann werde sich vielleicht in Russland etwas ändern - und dann ergäben sich neue Möglichkeiten.
Wie sein Vorgänger drängt Selenskyj auf eine Nato-Mitgliedschaft. Doch bei dem Militärbündnis stösst er auf Granit. Die USA fordern von Kiew die versprochenen Reformen, etwa bei der Bekämpfung von Korruption. Der Ex-Schauspieler scheint dabei aber von der Angst vor Protesten nationalistischer Gruppen um Poroschenko getrieben zu sein. Deshalb beobachte er eine Hinwendung Selenskyjs zur Wählerschaft seines Vorgängers, sagt Jakubin und skizziert Selenskyjs neue Position: «Ich werde mehr Poroschenko sein, als Poroschenko selbst.»
Die Unterstützung in der Bevölkerung ist Umfragen zufolge dennoch hoch. Fast 30 Prozent würden ihm weiterhin in einem ersten Wahlgang ihre Stimme geben. Und die Stichwahl würde er gegen alle bisher bekannten Gegenkandidaten klar gewinnen. Bis zum nächsten regulären Wahltermin hat der 43-Jährige noch knapp drei Jahre. Eine zweite Amtszeit schliesst er nicht aus - anders als vorher noch versprochen.