Aargau/Solothurn

Kinder mit suchtkranken Eltern: Familie aus dem Kanton Luzern bietet Kids im Notfall ein Zuhause

Kanton Luzern

«Wollen etwas zurückgeben»: Familie bietet Kindern von suchtkranken Eltern stabiles Zuhause

· Online seit 20.10.2024, 07:37 Uhr
Kinder brauchen Stabilität und Eltern, die ihre Bedürfnisse sehen und auf diese angemessen reagieren können. Bei suchtkranken Eltern ist das nicht immer gegeben. In solchen Fällen springen Pflegeeltern ein und unterstützen dort, wo es leibliche Eltern gerade nicht können. Wir haben mit einem Paar gesprochen.
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In der Schweiz leben rund 100'000 Kinder mit einem Elternteil, der Alkohol oder andere Substanzen auf problematische Weise konsumiert. Oft ist dieser Elternteil suchtkrank. Die betroffenen Kinder leiden dazu häufig im Stillen. Die Substanz beherrscht den Familienalltag und die Beziehung zueinander.

Diese Situation belastet Kinder ungemein. «Unsicherheit und Instabilität dominieren den Alltag, Normalität und Sicherheit gehen verloren», schreibt «Sucht Schweiz» in einer Broschüre. Je nach Ausmass des Konsums erlebt das Kind einen anderen Vater oder eine andere Mutter. Es wird permanent mit gegensätzlichem Verhalten konfrontiert, was für ein Kind, egal welches Alters, traumatisierend sein kann.

Angehörige sind an dieser Stelle oft überfordert. Es ist nicht immer leicht zu wissen, wie mit den Kindern umgegangen werden soll. Oft bieten hier Personen, die eine Distanz zu den betroffenen Familien haben, einen Ausweg.

Seit sechs Jahren als Pflegeeltern dabei 

Zwei davon sind Corinne* und Thomas* aus dem Kanton Luzern. Seit knapp sechs Jahren sind die beiden Pflegeeltern und arbeiten bei der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern zusammen. Warum sie sich für dieses Engagement entschieden haben, erzählen sie uns: «Wir wollten etwas machen. Denn Kinder geraten immer unverschuldet in so eine Situation und müssen damit leben», erklärt Corinne im Gespräch mit ArgoviaToday. «Uns geht es gut, da wollen wir etwas zurückgeben», ergänzt Thomas.

Die beiden sind Notfallpflegeeltern. Das bedeutet, sie kümmern sich um Kinder, die schnell eine Betreuung brauchen. Nicht immer sind es Kinder mit suchtkranken Eltern. Auch akute Belastungen, Gewalt, Vernachlässigung, Überforderung und massive Elternkonflikte können zum Schutze der Kinder zu einer Notaufnahme führen. Diese sind dann in der Regel sechs bis neun Monate bei ihnen. «Es ist eine kurze Zeit, in der wir die Kinder eng begleiten und sie ein Teil von unserer Familie sind. Sie können neue Erfahrungen machen. So geben wir ihnen etwas auf den weiteren Lebensweg mit. Das erfüllt uns und bringt Freude», sagt Thomas.

Das Ziel der Fachstelle ist aber immer, dass die Kinder im besten Fall wieder von den eigenen Eltern betreut werden. Andere Möglichkeiten wären eine permanente Pflegefamilie, bei Tanten, Onkeln, Grosseltern oder weiteren Angehörigen unterzukommen. Manchmal komme es auch vor, dass Kinder in eine Institution wechseln, erklärt Stefan Häfliger, Teamleiter und Sozialpädagoge bei der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern.

Das Unterkommen bei Thomas und Corinne bietet dafür Zeit, um offene Fragen ausreichend zu klären. Am Ende entscheiden aber immer die Behörden – zum Beispiel die Besuchszeiten und die Besuchshäufigkeit, aber auch die endgültige Unterbringung. Die Fachstelle fungiert hierbei als Bindeglied zwischen Pflegefamilie und Behörde wie auch als fachliche Unterstützung.

Babys haben schon einen Entzug durchgemacht

Bei Kindern, die aus suchtkranken Familien kommen, muss die Pflegefamilie allerdings einiges beachten. «Neugeborene haben oft schon einen Entzug hinter sich», so Corinne. Das merke sie dann schon, das Weinen der Babys ist oft intensiver und anders. Oft trägt Corinne die Babys den ganzen Tag eng an mir. Auch in der Nacht brauchen sie viel Nähe und Sicherheit. Diese Babys benötigen sehr viel Körperkontakt und besonders die Gewissheit, dass sofort jemand da ist, wenn sie etwas brauchen. «Stabilität und Bedürfniserfüllung sind ganz wichtige Faktoren», sagt Corinne. «Denn oft haben die Kinder relativ früh die Erfahrung machen müssen, dass sich nicht so um sie gekümmert wird, wie sie es bräuchten. Oder das Bedürfnis von ihnen nicht so wahrgenommen werden. Das kann grossen Stress bei den Kindern auslösen.»

Darüber hinaus sei Entwicklungsverzögerung in so jungen Jahren ein grosses Thema. Dabei müssen Corinne und ihr Mann genau darauf achten, wie sich die Kinder entwickeln. «Manchmal verläuft alles eine Zeit lang sehr gut, bis wir dann feststellen, dass die Entwicklung stockt.» Dazu schreibt sie ein Tagebuch, in dem sie festhält, was gut lief, was weniger gut war. «Bei Bedarf können wir schnell reagieren und mit der Pädagogischen Leitung schauen, ob das Kind eine entsprechende Förderung braucht.»

Erfahrung bringt Gelassenheit

Hatte die Familie aus dem Kanton Luzern zu Beginn noch mehrere Pflegekinder bei sich zu Hause, haben sie mittlerweile festgestellt, dass sie sich mehr und vor allem auch umfänglicher auf eines pro Aufnahme konzentrieren können. Das sei auch besser vom Platz her, so Corinne. In der Notaufnahme sind die Kinder im Alter ab der Geburt bis 17 Jahre. «Jede Situation, jedes Kind ist anders. Mittlerweile sind wir gelassener – auch im Umgang mit den leiblichen Eltern», so Thomas.

Wie gelingt die Abgrenzung bei suchtkranken Eltern?

Mit der Fremdbetreuung der eigenen Kinder sind die leiblichen Eltern oft in Not und haben Schuld und Schamgefühle. In diesen Emotionen möchten sie möglichst viel bestimmen können. Das fängt an bei der Kleidung, Nahrung und endet bei der Frisur. «Da darf man sich nicht verrückt machen», sagt er weiter. Das werde auch individuell betrachtet. Die leiblichen Eltern werden so gut es geht bei den Entscheidungen mit einbezogen. Bei manchen Eltern braucht aber eine ganz klare Abgrenzung zum Schutz der Pflegekinder und der Pflegeeltern. So kann es auch sein, dass die Pflegefamilie zunächst anonym bleibt. Es sei aber immer das Ziel, das Verhältnis zu öffnen und die leibliche Mutter oder den Vater in den Prozess zu integrieren, sagt Häfliger.

Wenn Besuchszeiten der leiblichen Eltern vereinbart sind, erhalten Corinne und Thomas recht schnell einen Eindruck, wie es der Mutter und dem Vater geht. Bei suchtkranken Personen kann das Verhalten auch mal variieren, wie die Pflegeeltern auch erfahren mussten. «Ziel ist es immer, einen guten Kontakt zur Herkunftsfamilie aufzubauen. Trotzdem ist es auch wichtig, sich gut abzugrenzen. Dies gelingt aber nicht immer gleich gut», sagt Thomas. «Wir hatten mal eine Aufnahme, da kämpften beide Elternteile mit der Sucht. Der Vater war über einen längeren Zeitraum recht zuverlässig und machte eine Therapie. Es sah eine Zeit lang sehr gut aus.»

Der Mutter fiel es schwer, sich an die Vereinbarungen und Regeln zu halten. «Wir hatten dennoch ein sehr gutes Verhältnis, die Mutter und auch der Vater hatten stets Vertrauen zu uns.» Die Pflegefamilie hat auch hin und wieder für die Mutter eingekauft und sie versucht zu unterstützen. «Als Pflegeeltern muss man Menschen gerne haben und auch die Hintergründe verstehen. Es gibt immer einen Grund, warum Personen auf Substanzen zurückgreifen. Sie sind nicht selbst schuld, sondern krank.» Die leiblichen Eltern tun in der Erziehung das, was sie können und so gut sie können. «Wir können das Leben der suchtkranken Eltern nicht beeinflussen und ändern. Das Einzige, was wir tun können, ist auf ihr Kind zu achten und zu schauen, dass es ihm gut geht.»

Bleibt die Pflegefamilie mit den Kindern in Kontakt?

Für Thomas und Corinne ist vor allem die Fachstelle eine grosse Hilfe, die ihnen viel Druck von den Schultern nimmt. «Wir sind in den Fällen nicht diejenigen, die beispielsweise über Besuchszeiten bestimmen und diese festlegen», erklärt er weiter. «Wir sind für das Kind zuständig und können uns auf diese Aufgabe konzentrieren. Mit der Zeit verstehen das die leiblichen Eltern.» Oft kommt es zu einer Entspannung im Verhältnis mit der Pflegefamilie. Mit dieser klaren Abgrenzung ist die Familie bislang recht gut gefahren.

Wenn die Kinder die Pflegefamilie verlassen müssen, wird die Übergangszeit recht lange eng von der Fachstelle begleitet. «Der Übergang findet nicht von heute auf morgen statt, es gibt ausreichend Eingewöhnungszeit», so Corinne. Nach jedem Kind legen Thomas und Corinne auch eine Pause ein. Wie lange die dauert, ist individuell, konzeptionell sind drei Monate definiert. «Nach dem Wechsel ist es wichtig, dass die Kinder am neuen Ort – wieder bei den leiblichen Eltern oder einer Pflegefamilie – gut ankommen können. Anschliessend werden dann nochmals ein bis zwei Termine für einen Besuch gemacht.» Danach liege es an den Kindern, ob sie mit Thomas und Corinne in Kontakt bleiben wollen. Je nach Alter sei das recht unterschiedlich, sagt Thomas weiter.

*Namen von der Redaktion geändert.

veröffentlicht: 20. Oktober 2024 07:37
aktualisiert: 20. Oktober 2024 07:37
Quelle: ArgoviaToday

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