Schweiz

Geringer Protest trotz massiver Entlassungen in Zürichs Medienbranche

Kahlschläge

Schwarzer September – grosser Protest bleibt in Medienbranche aber aus

30.09.2024, 15:10 Uhr
· Online seit 30.09.2024, 07:24 Uhr
Gleich zwei grosse Medienhäuser kündigten im September einen massiven Stellenabbau an. Damit erlebt die Medienbranche einen erneuten Tiefpunkt. Dass der grosse Aufstand ausgeblieben ist, bereitet Sorgen.
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Einen schwarzen September hat die Medienbranche hinter sich. Gleich zwei grosse Medienhäuser kündigten einen massiven Stellenabbau an. Das Zürcher Medienunternehmen Tamedia baut in der Redaktion 55 Vollzeitstellen ab. Der traditionelle «Züritipp» wird eingestellt. Die Zürcher Regionalzeitungen verlieren ihre eigenständigen Online-Auftritte.

Keine Woche später folgte der nächste Sparhammer: Die SRG gab bekannt, 75 Vollzeitstellen zu streichen. Die «Tagesschau»-Ausgaben am Mittag und um 18 Uhr werden deshalb künftig Geschichte sein. Auch unter anderem der beliebte Jugendkanal «We, Myself & Why» fällt den Sparmassnahmen zum Opfer.

Die Sparrunden sind ein weiterer Tiefpunkt einer seit Jahren bestehenden Entwicklung. Zahlreiche Blätter wurden bereits eingestellt. Gleichzeitig krampfen Angestellte auf zusammengesparten Redaktionen für zwei.

«Jetzt reicht es»

Immer wieder zeigt sich Widerstand. Im Oktober 2023 protestierten rund 300 Leute vor der TX Group gegen einen angekündigten Stellenabbau in den Redaktionen. Der Protest fand nur am Rande statt – zu vielen Medienschaffenden war der Aufruf nicht einmal durchgedrungen. Als bekannt wurde, dass die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) 40 Redaktionsstellen verlieren würde, trat die Belegschaft in einen unbefristeten Streik. Andere Medienschaffende hielten sich vornehm zurück. Der grosse Protest gegen die Kahlschläge ist in der Schweizer Medienbranche – trotz der immer angespannteren Situation – ausgeblieben.

Nach dem jüngsten Aderlass von Tamedia hatte die in Zürich lebende freie Journalistin Esther Banz die Nase voll: «Schon wieder? Es reicht jetzt», sei ihre spontane Reaktion gewesen, als sie vom Abbau bei Tamedia gelesen habe und ihr die vielen vorausgegangenen Sparrunden in den Sinn gekommen seien, sagt sie zu ZüriToday.

Von unterwegs postete Banz einen Aufruf auf Facebook, beschuf sich Material zum Basteln von Transparenten und stellte sich drei Stunden später an jenem 17. September vor das Gebäude der TX Group an der Zürcher Werdstrasse. «Kein Kahlschlag für Profit», stand auf ihrem Plakat. Fast 30 Journalistinnen und Journalisten seien ihrem Aufruf gefolgt. «Mit unserem spontanen, stillen Protest wollten wir zeigen, dass wir mit dieser verantwortungslosen Geschäftspolitik nicht einverstanden sind».

«Hoffe immer noch auf grossen Protest»

Von den aktuellen Tamedia-Angestellten schloss sich niemand dem Protest an. Dies überraschte Esther Banz nicht. «Ich hörte, dass in den Redaktionen die Angst zu gross ist. Verständlich: Wo sollen sie noch hin, wenn sie ihren Job verlieren?», sagt sie.

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Banz erlebte den in nur einer Stunde privat organisierten, kleinen Protest als kraftvoll. «Es tat gut, zusammen aktiv zu werden, zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind.» Dennoch sorgt sich die Journalistin. «Was braucht es noch, bis Politik und Öffentlichkeit reagieren? Und was, bis die Medienschaffenden in Streik treten?» Sie sei Mitglied der Gewerkschaft Syndicom und hoffe immer noch darauf, dass mehr Berufskolleginnen und -kollegen einer Gewerkschaft beiträten und sich organisierten. «Der hiesige Journalismus wird ausgehungert und das schadet letztlich allen», sagt sie.

«Würde Politik beeindrucken»

Die Schweizer Mediengewerkschaft Syndicom würde einen breiten Aufstand begrüssen. «Ein branchenübergreifendes Signal möglichst vieler Medienschaffenden aus allen Medienhäusern wäre stark und würde sowohl die Verleger als auch die Öffentlichkeit und die Politik beeindrucken», sagt Stephanie Vonarburg, Vizepräsidentin der Gewerkschaft Syndicom auf Anfrage.

Min Li Marti, SP-Nationalrätin und Verlegerin der Wochenzeitung P.S., vermutet, dass Journalistinnen und Journalisten nicht einfach gewerkschaftlich organisierbar sind. «Das hat wohl auch damit zu tun, dass viele Angst um ihre Arbeitsstelle haben und sich deswegen nicht exponieren wollen.» Was man eher sehe, sei ein stiller Protest. «Die Abwanderung von immer mehr hochkarätigen Journalistinnen und Journalisten in die Kommunikations- und PR-Branche.»

Schlechte Stimmung

Jedes angekündigte Sparprogramm löst bei den Medienschaffenden einen Schock und Gefühle der Machtlosigkeit aus. So weit muss es aber nicht kommen. Wo sich Medienschaffende kollektiv zusammenschliessen, entsteht laut Stephanie Vonarburg meist auch organisierter Widerstand. «Selbstverständlich rufen wir alle Angestellten von Medienhäusern auf, sich frühzeitig gewerkschaftlich zu organisieren, und nicht erst, wenn Sparprogramme kommuniziert werden.»

Syndicom beurteilt die Stimmung in vielen Redaktionen als «nicht gut». Es gebe einige Beispiele, wo sich Medienschaffende kollektiv zusammenschlössen und wehrten, sagt Vonarburg. Die Gewerkschaft Syndicom sei immer da, um das kollektive Vorgehen zu unterstützen und zu organisieren. «Nur gewerkschaftlich gut beratene und organisierte Arbeitnehmende können das Kräfteverhältnis selbstbewusst ändern und ihre Interessen in Verhandlungen auf Augenhöhe vertreten.»

«Protest könnte auch kontraproduktiv sein»

Bürgerliche Politiker würde ein grosser Medienprotest kaum beeindrucken. «Ein medialer Massenprotest könnte auch kontraproduktiv sein», sagt Marcel Dobler, FDP-Nationalrat und Mitglied der SRG-Initiative «200 Fr. sind genug!». Angestellte privater Medienhäuser signalisierten damit entweder, dass sie mehr staatliche Subventionen forderten oder ihr Medienhaus für die Entwicklung der Medienlandschaft verantwortlich sei. Dies verschlechtere die Stimmung und sei keine Lösung für die grundsätzlichen Entwicklungen, die überall stattfänden.

Dobler ist der Meinung, dass viele Medienunternehmen viele Jahre Innovationen verschlafen und sich nicht angepasst haben. KI werde in diesem Bereich klar zu Effizienzsteigerung führen, die nur wenige bereits nutzten. «So verstehe ich auch nicht, warum es immer noch kein Angebot für Pendler gibt, wo man sich die Zeitung zum Beispiel als Podcast vorlesen lassen kann.» Auch müssten die Medienhäuser ihre Abo-Preise zwangsläufig erhöhen. «Qualitativ guter Journalismus hat einen Wert, den man bezahlen muss. Der Trend, sich nur in den sozialen Medien zu informieren, ist gefährlich, aber staatliche Subventionen der Steuerzahler sind nicht die Lösung.»

In der letzten Septemberwoche sendete der Nationalrat der Medienbranche dennoch ein positives Signal. Er entschied, die Presseförderung für die Tageszustellung der Regional- und Lokalpresse von jährlich 30 auf 45 Millionen Franken aufzustocken.

veröffentlicht: 30. September 2024 07:24
aktualisiert: 30. September 2024 15:10
Quelle: ZüriToday

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