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Winterblues oder Depression? Bei Kindern und Jugendlichen nicht einfach zu unterscheiden

«Winterblues»

«Wenn es eine ausgeprägte Depression ist, ist fachliche Hilfe unumgänglich»

· Online seit 28.10.2024, 21:46 Uhr
Viele kennen und fürchten ihn: den «Winterblues». Kinder und Jugendliche sind ebenfalls davon betroffen. Ein Facharzt erklärt in einem Interview, wie sich die Jugend Müdigkeit und Lustlosigkeit an trüben Tagen vertreiben kann – und ab wann professionelle Hilfe nötig ist.
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Die Tage werden kürzer und dunkler. Eine gewisse Antriebslosigkeit stellt sich ein, man ist vielleicht etwas lustloser und muss sich für Tätigkeiten aufraffen.

Viele sagen umgangssprachlich, sie fühlten sich «depressiv». Doch eine Depression ist eine Erkrankung, welche über eine längere Zeit besteht. Das Phänomen der Antriebslosigkeit während dunkler Tage hat auch einen Namen: Saisonale Affektive Störung, die englische Abkürzung ist sehr passend: SAD (Seasonal Affective Disorder; «sad» heisst traurig auf Englisch). Umgangssprachlich nennt man sie auch «Winterdepression» oder «Winterblues».

Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es aufgrund ihrer Entwicklung sehr schwierig auseinanderzuhalten, ob es sich um eine normale (vor-)pubertäre Schwankung, einen vorübergehenden «Winterblues» oder eine sich entwickelnde oder bereits ausgeprägte Depression handelt. Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Mitglied der Geschäftsleitung der Luzerner Psychiatrie AG, gibt eine Übersicht zur Unterscheidung, was bei Trägheit Abhilfe schaffen kann und ab welchem Zeitpunkt fachliche Hilfe angezeigt ist.

Wie unterscheidet sich die Winterdepression bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen?

Dr. med. Bilke-Hentsch: Bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich die Störung im Grunde ähnlich wie bei Erwachsenen. Jedoch sind Schwankungen in der Aktivität bei Jüngeren aufgrund ihres Entwicklungsstandes stärker als bei Erwachsenen und erstmals nichts Bedenkliches. Beispielsweise ist das Aktivitätslevel bei 3-Jährigen und bei Jugendlichen in der Vorpubertät grundsätzlich sehr hoch. In der Pubertät hingegen schwankt der Aktivitätsgrad sehr stark: Zuerst «chillen» sie und dann spielen sie plötzlich zwei Stunden Basketball.

Und wie äussert sich der Winterblues speziell bei Kindern und Jugendlichen?

Viele Kinder und Jugendliche sind nicht depressiv, sondern antriebsarm und lustlos.

Was ist der Unterschied zu einer Depression?

Eine Depression zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: körperlich, gedanklich und emotional. Ist jemand depressiv, fühlt sich diese Person körperlich nicht kräftig und nicht vital, sie leidet allenfalls unter Schlafstörungen, hat Probleme mit der Ernährung und dem Appetit. Speziell Jugendliche berichten dann häufig von einem diffusen Gefühl: «Mit mir ist etwas nicht in Ordnung» oder «da stimmt was nicht», ohne dass sie den Finger direkt drauf legen können.

Und die gedankliche Seite einer Depression?

Die ist sehr stark geprägt durch negative Inhalte. Auch neutrale Reize werden dann nicht mehr als solche erkannt, sondern ins Negative verzerrt. Wenn ich beispielsweise einen herbstlichen Baum sehe, kann ich diesen sachlich als das sehen, was er ist: Ein Baum, dessen Blätter sich verfärben.

Ein depressiver Jugendlicher wird vermutlich bloss das Negative daran sehen: Bald ist der Baum kahl, bald kommt der Winter, bald ist es nass und kalt. Und er kann dieses negative Denken auch nicht mehr abstellen oder zur Seite schieben. Deswegen fallen depressive Kinder und Jugendliche in der Schule zum Beispiel durch einen Leistungsknick auf, weil sie sich nicht mehr konzentrieren können.

Zudem ist es den Betroffenen kaum noch möglich das Positive zu sehen, sie können sich nicht mehr an den schönen bunten Laubblättern erfreuen.

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Und die dritte Seite einer Depression…

…ist die emotionale Komponente, wobei das Emotionale bei Depressionen paradoxerweise meist gar nicht so entscheidend ist: Depressivität ist gekennzeichnet von Gefühllosigkeit. Es ist einem alles egal. Es ist alles «gleich gleichgültig». Sobald der Depressive wieder negative Gefühle empfindet, ist er auf dem Weg der Besserung, weil er dann wieder etwas fühlen kann.

Früher nannte man die Depression auch das «Losigkeitssyndrom». Man meinte damit, dass von allem etwas fehlt: Depressive sind Antriebs-, Gedanken-, Plan-, oder eben Gefühllos.

Wenn ein Kind nachdenklich ist und mit Dingen hadert, könnte es eine Depression entwickeln, es könnte aber auch einfach ein nachdenkliches, melancholisches Kind sein. Setzt sich diese Schwere aber in allen Lebensbereichen fest und kann man nur noch negativ denken, dann wird es schwierig und man sollte etwas tun.

Was kann man denn tun? Beziehungsweise ab wann sollte man sich fachliche Hilfe holen?

Wenn es eine ausgeprägte Depression ist, ist fachliche Hilfe unumgänglich. Ist die Depression nur saisonal, heisst beschränkt sie sich auf die Wintermonate, dann ist es eine abgeschwächte Form. Wenn man dann auf Grundlegendes wie die Ernährung, genügend Schlaf, gute Innenbeleuchtung, aber auch echtes Tageslicht und frische Luft achtet, sollte es innerhalb von ein paar Wochen wieder besser werden.

Schlecht ausgeleuchtete Innenräume sind ein Problem?

Ja! Starke Lampen mit hohen Lichtemissionen sind zwar gewöhnungsbedürftig, aber sie sind sehr wirkungsvoll. Die meisten Lampen in den Gebäuden haben eine viel zu geringe Lichtstärke. Dazu gab es bereits Untersuchungen: Über die Veränderung der Lichtstärke und der Wärme des Lichtes kann man in der Schule die Leistung und das Wohlbefinden immens verbessern. Vor allem im Norden, in Ländern die viel mit Lichtmangel zu kämpfen haben, zum Beispiel Norwegen, wird routinemässig in diesen Bereichen extrem viel umgesetzt.

Was sind weitere spezifische Herausforderungen bei Kindern und Jugendlichen?

Durch Computerspiele, Handy und sehr lange Schul- und Hausaufgabenzeiten kommen sie gar nicht mehr an das Sonnen- und Tageslicht.

Dazu kommt, dass durch den Handykonsum vor dem Schlafengehen durch das Blaulicht der Schlaf-Wach-Rhythmus stark verschoben wird. Dies können wir seit ungefähr 15 Jahren beobachten: Insgesamt wird zu wenig geschlafen, zu wenig Tageslicht und abends dazu noch blaues Licht aufgenommen. Für manche geht der Tag erst abends los.

Sie haben die Schulaufgaben angesprochen: Gibt es strukturelle Probleme in der Schule, die das Problem verstärken?

Ja, definitiv. Beispielsweise der Schulbeginn: Wir wissen seit langem, dass Kinder und Jugendliche erst ab neun Uhr morgens wirklich aktiv werden. Der Schulbeginn um 8 Uhr im Dunkeln ist für den Biorhythmus von Kindern und Jugendlichen ganz ungünstig. Etwas länger schlafen und ein späterer Schulbeginn wären unspezifische Massnahmen, die gerade in der dunklen Jahreszeit den Kindern und Jugendlichen helfen könnten.

In der dunklen Jahreszeit kommt zudem noch etwas dazu: das Jahresende. Gerade in der Schule hat das Ende des Jahres eine «Bilanzfunktion». Und ganz unbewusst denken die Kinder und Jugendlichen sich «das habe ich schon wieder nicht geschafft», was wiederum typisch depressives Denken ist. Und wenn jemand grundsätzlich antriebsloser und lustloser ist, hat diese Person einen noch grösseren Druck und daraus kann sich eine Auffälligkeit entwickeln.

Wieder die Frage: Bis wann ist es Trägheit durch die dunkle Jahreszeit, ab wann ist es depressiv.

Das ist eine Herausforderung: Man muss diejenigen, die einfach «nur» vorübergehend antriebslos und lustlos sind fachlich von denen unterscheiden, bei denen es ein ausgeprägtes Erlebens-, Denk- und Fühlmuster wird und die wirklich depressiv werden und eine Therapie brauchen.

Wieso werden so junge Menschen krank?

Für seelische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen haben wir sehr selten eine Erklärung. Es ist eine Konstellation aus drei bis vier Faktoren, wenn dann noch eine individuelle Empfindlichkeit dazukommt, dann kippt das System. Und wenn man eine ausgeprägte Depression hat, dann reicht Tageslicht und Bewegung an der frischen Luft nicht mehr aus, beziehungsweise dauert es dann deutlich länger, bis eine Besserung eintritt.

Die Winterdepression hingegen wird häufig durch ein Lichtdefizit ausgelöst. Genügend Tageslicht wird für das allgemeine Wohlbefinden sehr unterschätzt.

Wieder das Licht! Fiat lux also?

Ja, das ist tatsächlich sehr trivial: Lichttherapie und nach draussen gehen sind ein Stück weit Prävention, damit sich die depressive Stimmungslage nicht festsetzt.

Es gibt Lichttherapieanlagen, vor die man sich morgens eine halbe Stunde setzt und so «das Sonnenlicht» eines ganzen Tages aufnimmt. Der Körper kann das Licht für den Tag speichern. Und wenn man sich morgens die halbe Stunde nicht nehmen will, weil die Kinder ja ausschlafen sollen: Mittlerweile gibt es auch «Lichttherapiebrillen», die sind sehr schmal und sehr hell, mit der können alle Aufgaben erledigt werden. Dies sind sehr einfache Massnahmen, die das subjektive Wohlbefinden nachweislich verbessern. Künstliches Licht funktioniert genauso gut, aber ist nicht so angenehm wie natürliches Tageslicht. Man sollte die Lichttherapie aber natürlich nicht abends verwenden.

Das klingt so als wäre Licht die Lösung aller Probleme

So ist das natürlich nicht. Dies ist eine Intervention, es ist ein Baustein, neben vielen anderen, die jeweils einen Teil des Problems verbessern: Das Kind braucht Bewegung, Licht, Luft, Blick in die Ferne und natürliche Eindrücke. Das macht biologisch gesehen total Sinn: Das Licht fällt gewissermassen über das Auge direkt wirkungsvoll auf das Gehirn, da das Auge beziehungsweise die Netzhaut als ein vorgeschalteter Teil des Gehirns verstanden werden kann.

Vitamin D ist ein Begriff, der in der Tageslichtdebatte ebenfalls häufig fällt.

Hilfreich ist beispielsweise auch ein Ausflug über die Nebelgrenze in die Sonne oder in den Schnee. Es klingt banal, aber gerät häufig in Vergessenheit: Schnee hilft allgemein, auch wenn er zum Beispiel in der Stadt liegt, da er das Licht reflektiert. Vielen Menschen geht es schlagartig besser, nachdem Schnee gefallen ist. Aber wir reden hier über die sogenannte Winterdepression, nicht über schwerste psychische Erkrankungen. Bei diesen ist die Behandlung nicht so trivial.

Auch hier: Es ist eine Intervention, die einen Teil des Problems verbessert. Man darf aber keine Wunderheilung erwarten. Zudem ist weder ein Mangel noch eine Überdosierung gut. Ein hoher Spiegel im normalen Bereich ist für alle Spurenelemente und Vitamine wichtig. Einen echten Mangel haben in unseren Breitengraden aber die wenigsten aufgrund der guten Ernährung, aber es kann zu einem relativen temporären Mangel kommen.

Während der Wintermonate beispielsweise ein vorübergehender Mangel an Vitamin D also?

Ja, richtig. Ich darf einfach keinen schnellen Effekt erwarten. Ich würde von einem Krafttraining nach drei Wiederholungen auch noch keine Veränderung erwarten. Man versucht eine gewisse Balance im Körper wieder herzustellen. In der Bevölkerung ist da schon ein gutes Bewusstsein vorhanden, viele achten auf eine ausgewogene Ernährung und versorgen sich selbständig mit den nötigen Spurenelementen und Vitaminen. Man darf einfach nicht erwarten, dass man mit einem erhöhten Vitamin D Spiegel eine Depression behandeln kann.

Wenn es einem nicht so gut geht, kann man schon einiges machen. Viele Menschen wissen bereits, was sie brauchen. Wichtig ist einfach zu erkennen: Wo reichen Ratschläge, Hausmittel und Volksweisheiten völlig aus, und wo braucht es fachliche Hilfe, eine ausführliche diagnostische Abklärung und Therapie.

Was empfehlen Sie Kindern und Jugendlichen konkret?

Nicht direkt nach der Schule die Hausaufgaben machen: Zuerst eine Stunde raus beziehungsweise sich aktiv bewegen. Bei Bedarf mit Lichttherapien unterstützen und unbedingt Blaulichtschutzfilter beim Handy oder anderen Geräten einrichten, damit wird das Blaulicht vor dem Schlafengehen reduziert. Am besten natürlich gänzlich auf elektronische Geräte vor dem Zubettgehen verzichten.

Am Wochenende war wieder Zeitumstellung. Vielen graute es davor.

Die Zeitumstellung ist für viele tatsächlich sehr unangenehm. Der starke Schritt von einer Stunde bringt sensible Menschen schnell durcheinander. Schlafforscher sagen schon lange, dass die Umstellung unklug ist, es gibt in dieser Zeit anscheinend auch mehr Unfälle und Straftaten. Sie führt zu einer «kurzfristigen Instabilität», aber mit der Winterdepression hat das wenig zu tun. Da geht es um einen wochenlangen langsamen Abbau. Das ist nicht eine Sache von ein paar Tagen. Vermutlich wäre es schon «gesünder» die Zeitumstellung aufzuheben, aber es wäre noch so vieles gesünder, aber der Verzicht darauf würde vielen nicht gefallen (schmunzelt).

veröffentlicht: 28. Oktober 2024 21:46
aktualisiert: 28. Oktober 2024 21:46
Quelle: PilatusToday

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