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Misshandlung und Aussetzung von Tieren: Aargauer Tierschutz ist am Anschlag

«Prekäre Lage»

Misshandlung und Aussetzung von Tieren: Aargauer Tierschutz ist am Anschlag

· Online seit 06.10.2024, 10:02 Uhr
In diversen Regionen geraten Tierheime zunehmend unter Druck. Gewalt an Tieren nimmt zu, immer mehr ausgesetzte und vernachlässigte Haustiere müssen aufgenommen werden. Der Aargauische Tierschutz weiss nicht mehr weiter.
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Die Situation in den Schweizer Tierheimen – und auch in den Aargauer Stationen – ist alarmierend. Wie wir vergangenen Monat berichtet haben, wurden in der Schweiz im letzten Jahr 13,2 Prozent mehr Tiere in Heimen aufgenommen als im Vorjahr. Wie der Schweizer Tierschutz (STS) mitteilte, waren von den insgesamt 31'507 Aufnahmen im Jahr 2023 25'097 sogenannte Verzichttiere – Tiere, die von ihren Halterinnen und Haltern nicht mehr gewollt waren. Weitere 5237 waren Findeltiere und 1173 stammten aus amtlichen Beschlagnahmungen. Insgesamt konnten «nur» 16'113 Tiere an neue Halterinnen und Halter vermittelt werden. Das sei «besorgniserregend», sagte Julika Fitzi-Rathgen, Leiterin Tierschutz beim STS, laut Communiqué.

Immer mehr ausgesetzte Tiere

Laut dem Aargauischen Tierschutz (ATS) ist auch die Lage in den Aargauer Tierheimen prekär. «Wir sind komplett voll – auch die Pflegestellen. Wir können kaum noch eine Maus aufnehmen», sagt die Präsidentin des Vereins, Astrid Becker. Seit Januar diesen Jahres habe sich die Lage verschlimmert.

Besonders besorgniserregend ist laut Becker, dass die Fälle dieses Jahr so umfangreich seien. Nicht selten kommen die Katzen in Gruppen von einem Dutzend und «viele der gefundenen Katzen sind auch nicht gesund», so Becker. «Wir stellen ausserdem fest, dass immer mehr Fälle von ausgesetzten Tieren registriert werden.» Erst kürzlich wurden im Vogelsanger Wald zwei ausgesetzte Jungkatzen in einer Box entdeckt. «Ich musste gestern selbst eine hochträchtige Katze nach Hause nehmen, weil wir sie nirgendwo unterbringen konnten», berichtet Becker.

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Auch die Stiftung für das Tier im Recht berichtet von zunehmenden Strafverfahren wegen Gewalt gegen und Vernachlässigung von Tieren in den letzten Jahren. «Unter anderem im Kanton Aargau gibt es viele Fälle im Vergleich zu anderen Kantonen», erklärt Michelle Richner, Rechtswissenschaftliche Mitarbeiterin bei Tier im Recht.

Auch ennet der Grenze sind Tierschützende verzweifelt

Die steigende Zahl an Verfahren bedeute jedoch nicht zwangsläufig etwas Schlechtes, da viele Strafverfahren auch auf eine gute Strafverfolgung hinweisen können und nicht unbedingt Zeichen steigender Gewalt gegen Tiere sein müssen. Trotzdem appelliert Richner an die Gesellschaft, mehr Verantwortung zu übernehmen und Fälle zu melden. Die Dunkelziffer der Gewalttaten und das Leid der Tiere sei nach wie vor sehr gross. «Besonders im Sommer während der Ferien gibt es viele Tiere in den Heimen, für die sich niemand interessiert.»

Das Problem begrenzt sich aber nicht nur auf die Schweiz. Auf der deutschen Seite, ennet der Aargauer Grenze, ist die Lage auch kritisch, wie die «Badische Zeitung» im vergangenen Monat berichtete. Dort kämpft der deutsche Tierschutzverein Rheinfelden mit Platzmangel und einer Zunahme an Gewalt an Tieren. «Der Arbeitstag im Tierheim hat in der Regel zwölf bis 16 Stunden», schreibt die Vorsitzende laut der Zeitung. Es sei Realität, dass Tiere, die nicht mehr gewollt sind – sei es wegen ihres Alters, einer Krankheit oder weil sie nicht mehr zum Lebensstil ihrer Halterinnen und Halter passen – einfach ausgesetzt oder sogar getötet und verscharrt würden.

Überforderung der Halter als Hauptgrund

Als Grund für die Gewalt gegen und Vernachlässigung der Vierbeiner sieht Michelle Richner vordergründig die Überforderung der Besitzerinnen und Besitzer. «Viele Menschen sind selbst überfordert mit ihrem Leben und haben die Tierhaltung daher nicht mehr im Griff. Auch gibt es das sogenannte ‹Animal-Hoarding›, bei dem sich die Leute immer mehr Tiere anschaffen und letztlich mit der Situation nicht mehr umgehen können.» Auch im Aargau gibt es solche Fälle: Im Juli 2023 hat der Veterinärdienst beispielsweise 29 Katzen aus einer Wohnung im Bezirk Bremgarten gerettet. Im Bezirk Zofingen hat er im Februar in einem Haus 40 Katzen und 11 tote Kaninchen entdeckt.

Auch die Corona-Zeit sei ein Grund für die derzeitige Auslastung der Tierheime. Damals haben sich viele Leute Haustiere angeschafft, sagt Schaffner. «Heute haben die meisten nicht mehr die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten und auf die Tiere zu achten. Ausserdem haben viele wieder genug von den Tieren.»

Das Problem der vorherrschenden Vernachlässigung von Haustieren spiegelt sich im Fall des 59-jährigen Mannes aus dem Zurzibiet wider, über den wir Ende August berichtet haben. Er hatte die schweren Erkrankungen seiner zwei Hunde ignoriert und sie trotz sichtbarer Missstände nicht zum Tierarzt gebracht, was schliesslich zum Tod der beiden Tiere führte.

Das wird gefordert

Aus diesem Grund fordert Michelle Richner von Tier im Recht, dass unter anderem striktere Gesetze eingeführt werden. «Wir haben in der Schweiz bereits vergleichsweise strenge Regeln, trotzdem braucht es noch mehr. Die Mindestanforderungen für die Tierhaltung sind alles andere als ein Paradies für die Tiere», so Richner.

Auch Astrid Becker vom ATS wünscht sich Veränderungen auf Gesetzesebene. Neben dem nun vom Aargauer Parlament angenommenen Vorstoss zur Chip-Pflicht bei Katzen hofft Becker auch auf eine zukünftige Kastrationspflicht: «Das wäre unglaublich wichtig, damit es keinen ungewollten Nachwuchs mehr gibt, der dann irgendwo herumstreunt, krank wird und schliesslich verhungert.» Man müsse jetzt damit anfangen, sonst werde die Lage immer schlimmer.

Aufklärung bereits in der Schule?

Das Problem liege jedoch auch bei der Umsetzung der Gesetze. «Der Strafrahmen würde bei leichten und mittleren Verstössen eine Busse bis 20'000 Franken erlauben, ausgesprochen werden aber meist nur 300 bis 400 Franken», erklärt die rechtswissenschaftliche Mitarbeiterin. Bei schweren Verstössen sei sogar eine Freiheitsstrafe möglich, die werde jedoch eigentlich nie angewendet, so Richner.

Auch Richner fordert bei Katzen eine Kastrationspflicht. Weiter würde sie auch eine Wiedereinführung von obligatorischen Tierhaltungsausbildungen begrüssen, bevor man sich ein Haustier anschaffen darf. Zudem solle präventiv auch bei der Bildung angesetzt werden. In den USA gebe es an den meisten Universitäten ganze Kurse über die Tierhaltung, in der Schweiz ist das Angebot verschwindend klein. So solle zukünftig auch an Schweizer Schulen und Universitäten über die Tierhaltung sensibilisiert und aufgeklärt werden.

veröffentlicht: 6. Oktober 2024 10:02
aktualisiert: 6. Oktober 2024 10:02
Quelle: ArgoviaToday

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