Aargau/Solothurn

Thomas Jenelten war 13 Jahre lang Polizeiseelsorger im Aargau – im grossen Interview spricht er über seine Erlebnisse

Polizeiseelsorger in Rente

«Hilfe annehmen ist keine Kernkompetenz unserer Gesellschaft»

· Online seit 30.09.2024, 05:00 Uhr
Ein Polizeiseelsorger begleitet Polizisten in Extremsituationen, hört ihre Sorgen und hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Wie fühlt es sich an, die Seele derjenigen zu stützen, die täglich an vorderster Front stehen? Der Aargauer Polizeiseelsorger in Rente Thomas Jenelten gewährt einen Einblick hinter die Kulissen.
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Thomas Jenelten arbeitete 13 Jahre lang als Seelsorger für die Aargauer Polizeien. Ende 2023 ging der studierte Seelsorger in Pension. Im grossen Interview mit ArgoviaToday erzählt Jenelten, wie er die Seelsorge bei der Polizei aufbaute, was sein Beruf mitbrachte und was der Glaube für eine Rolle spielt.

ArgoviaToday: Sie haben die Polizeiseelsorge im Aargau aufgebaut. Wie ist dieser Prozess verlaufen und wie kam es überhaupt dazu?

Thomas Jenelten: Der Ausgangspunkt war, dass die Personalverbände der Polizeiorganisationen das Thema aufgegriffen hatten, weil sie sich eine Polizeiseelsorge wünschten. Dann hat der Kirchenrat der reformierten Landeskirche das aufgenommen und auch den katholischen Kirchenrat ins Bot geholt. So wurde diese Stelle geschaffen. Sie wird landeskirchlich finanziert. Es gibt eine Begleitkommission, in der beide Landeskirchen und die beiden Polizeiorganisationen (Regionalpolizeien und Kantonspolizei Anm. d. Red.) vertreten sind. Als die Stelle dann ausgeschrieben wurde habe ich mich ganz einfach beworben.

Wie sah ein typischer Arbeitstag als Polizeiseelsorger aus? Gab es den überhaupt?

Nein, überhaupt nicht. Es war am Morgen nicht immer klar, was der Tag mit sich bringt. Es gab Sachen, die waren planbar und dann gab es Sachen, die einfach auf mich zu kamen. Jede Woche und jeder Tag war anders.

Warum kamen Polizisten zu Ihnen? In welchen Situationen hatten sie Redebedarf?

Am Anfang kam es sehr wenig vor, dass jemand zu mir gekommen ist. Man geht nicht zu einem Polizeiseelsorger, nur weil er da ist. Man geht zu Thomas, weil man ihn erlebt hat und weiss: «Zu ihm habe ich einen guten Bezug, er versteht mich wahrscheinlich». Für mich war daher immer wichtig, Präsenz zu zeigen. Von daher war es gut, dass ich im Kursprogramm drin war. Wenn man dann am Abend zusammengesessen ist, kam dann schonmal die Frage: «Du Thomas, hast du kurz einen Moment Zeit?» Ich habe auch regelmässig Dienste begleitet und war beispielsweise auf der Patrouille dabei. Wenn man eine Nacht lang unterwegs ist und Zeit hat, hat es sich manchmal auch von selber ergeben. Umso länger man mich gekannt hat, umso direkter kam man auf mich zu.

Also hat es auch einen Vertrauensaufbau gebraucht?

Ja, das war ganz wichtig. Ich würde ja auch nicht anders ticken. Man muss wissen, ob man seinem Gegenüber vertrauen kann. Gerade als Polizist ist man sich gewohnt, den Scan zu machen, ob es passt oder nicht.

Im Militär wussten alle, dass man den Armeeseelsorger aufsuchen kann, wenn man Gesprächsbedarf hat. Oft war das überhaupt kein Thema, weil das von den anderen als Schwäche hätte wahrgenommen werden können. War das bei der Polizei manchmal auch so?

Diese Situation gab es sicher. Hilfe annehmen ist nicht unbedingt eine Kernkompetenz unserer Gesellschaft, auch nicht von Polizisten. Was immer wieder passierte, was auch sehr cool war, ist, dass Vorgesetzte zu mir kamen, wenn sie das Gefühl hatten, dass ein Polizist Unterstützung braucht. So wurden Brücken gebaut, um ins Gespräch zu kommen – ein guter Weg.

Was waren typische Erlebnisse, von denen Polizisten berichtet haben?

Interessanterweise waren es selten konkrete Ereignisse, die im Fokus standen. Es war häufig die Grundstimmung im Leben. Das konnte beispielsweise die Belastung durch Arbeit und Familie sein. Oft waren es private Geschichten. Natürlich gibt es auch Auslöser im Dienst, wenn man beispielsweise an einem Unfallort ankommt und etwas Schlimmes sieht. Meistens war der erste Schritt aber nicht, das Telefon in die Hand zu nehmen und mich anzurufen. Ich war ja auch nicht der einzige im System. Es gibt eine gut organisierte «Peer-Organisation», wo sich Kollegen gegenseitig unterstützen können. Ich erinnere mich aber an einen Fall, bei dem ein kleines Kind in den Armen eines Polizisten starb und er von sich aus auf mich zugekommen ist.

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Wie halfen Sie den Polizisten konkret?

Primär über den menschlichen Aspekt: zuhören, je nachdem versuchen, Sachen einzuordnen und zu klären. Mich später zu erkundigen, wie es ihnen geht, damit die Polizisten merken, dass ich das Gespräch nicht vergessen habe und mit ihnen mitgehe, das war mir wichtig. In vielen Situationen war es mir auch wichtig, weitere Gespräche zu führen. Wenn mir jemand etwas erzählte und ich danach spazieren ging, hatten auch meine Gedanken begonnen, sich zu sortieren. Daher hielt ich es für wichtig, dran zu bleiben.

Was spielte der eigene Glauben dabei für eine Rolle?

Das war eher hintergründig. Dass Polizisten mit mir beten wollten oder religiöse Handlungen gewünscht haben, ist selten passiert. Aber das Wissen, dass ich in einer uralten Institution verwurzelt bin, hat offensichtlich ein Vertrauen gegeben. Ich habe häufig gehört: «Thomas, es ist gut, dass es dich gibt, aber ich hoffe, dass ich dich nie brauche».

Hat sich durch Ihre Arbeit über die Jahre etwas an ihrem Glauben verändert?

Ich hatte schon immer eine liberale Haltung und war ökumenisch aufgestellt. Wenn es als Polizeiseelsorger – und auch vorher in der Pfarreiarbeit – schwierig wurde, hat es immer mich getroffen. Klar war das dann eine Konfrontation mit der Härte des Lebens, aber das hat meinen Glauben nicht verändert. Die Arbeit als Polizeiseelsorger hat meine Sicht auf die Gesellschaft aber teilweise justiert.

Inwiefern?

Beispielsweise bei der ganzen Asylthematik. Einige Polizisten haben aufgrund von Erfahrungen eine kritische Einstellung diesbezüglich. Da merke ich zum Teil schon, dass ich etwas davon übernommen habe. Ich fühle mich deswegen aber nicht unsicher oder bedroht, wenn sich am Bahnhof viele Personen mit Migrationshintergrund aufhalten. Ich kann aber nachvollziehen, dass einige Mühe damit haben. Polizisten sehen manchmal Sachen, von denen man nicht denkt, dass sie in der Schweiz überhaupt passieren.

Konnten Sie in der Freizeit gut von den Ereignissen abschalten, mit denen Sie konfrontiert wurden?

Meistens. Ich war mal an einem 24. Dezember mit einer Patrouille unterwegs. In dieser Nacht wurde ein Abschiedsbrief von jemandem gefunden, der Selbstmord beging. Im Hintergrund läuteten die Kirchenglocken, das ist etwas sehr emotionales, dafür muss man kein Pfarrer sein. Ein paar Stunden später wurde die Patrouille wegen häuslicher Gewalt in ein anderes Dorf gerufen, wo ebenfalls die Kirchenglocken läuteten. Das war ganz hart. Den Schutz, den ich sonst «anhatte», wurde da quasi durchlöchert.

Was hat Ihnen diese Arbeit bedeutet?

Viel. Das ist ein Teil meines Lebens. Gerade heute ist ein spezieller Tag. (Das Interview fand am Donnerstag, 26. September, statt Anm. d. Red.Ich habe nach diesem Interview zwei Begegnungen mit Polizisten. Einen davon unterstützte ich in einer sehr schwierigen Situation, für ihn ist es manchmal wichtig ist, einen Anker zu haben. Ihn sehe ich heutzutage noch ab und zu. Es hätte ja auch keinen Sinn gemacht, ihn an meine Nachfolgerin zu «übergeben», weil wir zusammen so viel erlebt haben. Den anderen sehe ich auch schon länger, zwischen uns hat sich quasi eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Wenn wir beim Abendessen sitzen, sprechen wir auch gerne mal über Musik, Konzerte von Alice Cooper und ähnliches.

Ich ziehe noch einmal den Vergleich zum Militär. Obwohl der Seelsorger die gleiche Uniform hatte, war der Grundtenor, dass er trotzdem nicht ganz zur Einheit gehört. Wie wurden Sie im Korps wahrgenommen?

Ich war der erste, der das gemacht hat. Anfangs mussten sich alle erst etwas zurechtfinden. Ich hatte zum Beispiel keine Uniform, weil ich ja auch kein Polizist war. Dennoch denke ich, dass ich von den Polizisten als einer von ihnen angesehen wurde. Von der Führung, gerade bei der Kantonspolizei, wurde ich aber eher als Externer gesehen. Dementsprechend wurde entschieden, wo ich dabei zu sein hatte und wo nicht. Beim erweiterten Kaderrapport war ich beispielsweise immer eingeladen. Mit der Zeit wurde ich in der Einladung nicht mehr als Gast aufgelistet, sondern in der Rubrik zusammen mit dem Psychologenteam.

Haben auch Sie sich als einer von ihnen gesehen?

Ja. Ich hatte auch keine kritische Distanz zur Polizeiorganisation. Ich stehe hinter der Aargauer Polizei und finde, dass sie mit viel Herzblut einen super Job macht, bis auf ein paar Ausreisser.

Wie hat Sie diese Zeit als Mensch geprägt?

(Überlegt) Ich denke, dass ich nie in Versuchung geraten bin, nur die schöne Seite im Leben zu sehen, weil mich auch das andere in meiner Arbeit begleitet hat. Es ist mir relativ gut gelungen, mich davor zu schützen.

Wie?

Ich gehe viel in die Berge, um zu laufen, und schreibe viel, um Sachen einzuordnen. Ich bin auch ein Mensch, der mit Musik lebt. Wenn etwas Heftiges passiert ist, habe ich lieber Black Sabbath als Francine Jordi gehört. Rock und Heavy Metal ist sozusagen meine Herzensmusik, diese Power tut mir gut. Ganz wichtig waren natürlich auch Freunde. Ich habe wirklich tolle Freunde, die zum Teil auch gemerkt haben, wenn es mir nicht gut ging, die ich zu jeder Zeit anrufen konnte. 

Also hat auch der Seelsorger manchmal ein bisschen Seelsorge gebraucht?

Ja unbedingt!

Jetzt, wo Sie pensioniert sind, vermissen Sie diese Zeiten manchmal?

Ja. Nicht, dass ich in Versuchung gerate, meiner Nachfolgerin rein zu pfuschen. Aber ich merke schon, wenn ich unterwegs bin und ein Polizeiauto sehe, dass ich einsehe, dass diese Zeit mit dem Mitfahren jetzt wirklich vorbei ist. Ich habe das schon sehr gemocht. Dieser Teil ist weg, aber ein paar liebe Leute sind mir geblieben.

Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin als auch der Polizei für die Zukunft?

Viel Freude am Dienst.

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veröffentlicht: 30. September 2024 05:00
aktualisiert: 30. September 2024 05:00
Quelle: ArgoviaToday

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