Schweiz

Selbstjustiz bei Jugendlichen: Macht statt Moral

Rechtsextremismus

Soziologe: «Selbstjustiz ist eine Gefahr für unsere Demokratie»

· Online seit 19.10.2024, 17:08 Uhr
Im Tessin machten Jugendliche Jagd auf Pädophile. Was im Tessin passiert ist, ist kein Einzelfall. Immer mehr Jugendliche springen auf den Zug der Selbstjustiz auf. Was die rechte Szene damit zu tun hat und wie gefährlich der Trend ist, erklärt ein Experte gegenüber der Today-Redaktion.
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Mit Fake-Datingprofilen fädelten mehrere Minderjährige und ein 18-Jähriger vermeintliche Sextreffen mit Erwachsenen ein. Sie attackierten eigenmächtig die Männer, die sie für Pädophile hielten. Gegen die Teenager wird nun unter anderem wegen Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung ermittelt.

Medial haben die Jugendlichen für ihren Akt der Selbstjustiz den Namen «Pädophilen-Jäger» erhalten. Die vermeintlich «guten Absichten» zielen aber auf Macht und nicht Moral ab. «Selbstjustiz ist willkürlich; der Stärkere, Mächtigere bestimmt, wer Strafen verdient und wer nicht. Diesem vormodernen Denken, welches leider derzeit wieder Aufschwung erfährt, muss energisch entgegengetreten werden», erklärt Dirk Baier, Kriminologe und Soziologe, gegenüber der Today-Redaktion.

Tessin ist kein Einzelfall

Selbstjustiz hat sich derzeit tatsächlich als eine Art Trend entwickelt. Auf Tiktok und anderen Plattformen kursieren schon länger Aufrufe zu Selbstjustiz oder vermeintlich «inspirierende» Videos. Häufig sieht man darauf, wie eine Gruppe Jugendlicher, meist männliche, mit geballten Fäusten, manchmal mit Waffen sich mutmasslich auf den Weg zum nächsten Opfer machen.

Auffällig dabei ist, welche Profile solche Videos posten. Es sind vor allem Profile der rechten Szene. «Das hat sicherlich einerseits damit zu tun, dass sich rechte Akteure schon seit längerer Zeit auf Social Media vernetzen und organisieren. Sie haben also, dass Präsenz hier wichtig ist, um insbesondere junge Menschen zu erreichen», erklärt Baier.

Dass Aufrufe zur Selbstjustiz vor allem durch rechte Akteure gemacht werden, hat aber noch einen weiteren Grund. «Wir wissen aus der Forschung, dass die Forderung nach harten Strafen, verbunden mit der Bereitschaft, diese Strafen bei bestimmten Delikten auch selbst auszuführen, bei konservativ denkenden Menschen, insbesondere bei rechts- und rechtsextrem denkenden Menschen signifikant verbreiteter ist», fügt der Soziologe aus.

Dies habe mit dem Autoritarismus zu tun, welcher in diesen Milieus verbreitetet ist. «Man wünscht sich eine starke Autorität, die Recht und Ordnung mit allen Mitteln aufrechterhält; im Zweifelsfall ist man selbst diese Autorität», erklärt er weiter.

Ist Selbstjustiz ein Problem der Rechten?

Also ist die Selbstjustiz ein Problem der Rechten? «Die Rechten würden es nicht als Problem bezeichnen. In ihrem Denken wird dadurch der Gerechtigkeit Genüge getan, die in der bisherigen Rechtsordnung angeblich zu kurz kommt», hält der Kriminologe fest.

Genau das mache das Ganze so gefährlich: «An dieser Stelle wird einmal mehr klar, inwieweit rechtes Denken eine Gefahr für die Demokratie darstellt, weil es sich anmasst, rechtsstaatliche Prinzipien aushebeln zu können, um schnell harte Strafen umzusetzen. Dass das Rechtssystem auf wichtigen Regeln basiert und dass auch eine Tatperson Rechte hat, wird gern ignoriert», erklärt er.

Selbstjustiz stelle ein grosses Problem für unser demokratisches System dar. Die Demokratie fusst nicht auf Emotionalisierung, sondern auf rationalen Prinzipien, die einzig Gerechtigkeit sicherstellen können. «Selbstjustiz hingegen ist willkürlich; der Stärkere, Mächtigere bestimmt, wer Strafen verdient und wer nicht. Diesem vormodernen Denken, welches leider derzeit wieder Aufschwung erfährt, muss energisch entgegengetreten werden», führt Baier aus.

Plattformen müssen härter dagegen vorgehen

Dass Selbstjustiz gerade bei jungen Menschen aktuell beliebt ist, sei nicht verwunderlich: "Die Jugend ist eine Art Fieberthermometer der Gesellschaft. Problematische Entwicklungen zeigen sich zuallererst und in besonderer Stärke bei der Jugend. In unserer letzten Jugendstudie konnten wir zeigen, dass rechte Einstellungen unter Jugendlichen derzeit deutlich zunehmen, deutlicher als bei den Erwachsenen, bei denen sie aber auch zunehmen", stellt Baier klar.

Der Experte warnt deswegen vor den Aufrufen zur Selbstjustiz. «Sie sind gefährlich für die Demokratie, senken das Vertrauen in diese und sollten daher unbedingt verfolgt und sanktioniert werden. Plattformen sollten solchen Inhalt löschen müssen», fordert Baier.

Das können Eltern dagegen tun

Videos auf Tiktok und ähnlichen sozialen Netzwerken sollten deswegen unbedingt gemeldet werden, damit die Plattformen auch dagegen vorgehen. Eltern rät der Experten zwei Dinge: «Erstens sollten sie ein gutes Vorbild sein und darauf achten, wie sie über Kriminalität und Tatpersonen sprechen. Kinder orientieren sich an dem, was Eltern als ihre Haltung kommunizieren, und setzen es eben auch in die Tat um.»

Zweitens empfiehlt der Kriminologe «Demokratiebildung» mit den Kindern und Jugendlichen: «Wir haben uns als Gesellschaft bewusst gegen Rache, individuelle Willkür entschieden; stattdessen legen wir die Strafverfolgung aus sehr guten Gründen in die Hände von Institutionen. Und auch wenn diese manchmal vielleicht nicht so arbeiten, wie wir uns das vorstellen, ist das keine Legitimation, das Recht selbst in die Hand zu nehmen», hält er fest.

Der Experte wart zudem vor den Konsequenzen, die ohne die Demokratie herrschen würde: «Das wäre fatal, insofern niemand mehr mit fairen Verfahren rechnen kann. Ein auf Selbstjustiz fussendes System produziert Ungerechtigkeiten en Masse, und niemand ist davor gefeit, selbst zum Opfer von Selbstjustiz anderer zu werden. Das wäre der berühmte ‹Krieg aller gegen alle›.»

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veröffentlicht: 19. Oktober 2024 17:08
aktualisiert: 19. Oktober 2024 17:08
Quelle: ZüriToday

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